Die Seele
Gemütsorgan an der Schwelle zum Unterbewusstsein
"Reg dich doch nicht so auf!", "Sei nicht so empfindlich!", "Nimm das nicht so ernst!", "Mach dir nicht immer so viele Sorgen!", "Denk doch mal positiv!"....
Wer kennt nicht solche Ratschläge, die uns in schwierigen Situationen aufmuntern sollen?
Aber können wir sie umsetzen? Sind Ängste, nervöse Unruhe, Panikanfälle, Wutausbrüche, Hoffnungslosigkeit, Verzagen oder andere Eintrübungen kontrollierbar? Haben wir selbst einen willentlichen Einfluss auf unsere Stimmungslage?
Wohl kaum ein Mensch wird heute noch den Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Verfassung bestreiten. Seelische Not, vielleicht schon mitgebracht aus der ersten Lebensphase, z. B. durch Verlassenheitsgefühl, erhöht das Risiko, körperlich schwer zu erkranken, darin sind sich alle einig.
Bei Beschwerden, für die kein körperlicher Grund zu finden ist, ist der Befund "psychosomatische Symptome" meistens der nächstliegende. Patienten, die mit solchen Problemen zum Arzt gehen, hören fast immer die Frage: "Haben Sie Stress?"
Ja, natürlich, wer hat ihn nicht? Stress gehört zum Alltag, und das Rudeltier Mensch fühlt sich durch solche Fragen automatisch abgewertet: "Was soll das heißen? Denkt der etwa, ich habe mein Leben nicht im Griff?"
Solange wir können, versuchen wir, mit den anderen mitzuhalten und den Anforderungen unserer Umgebung zu genügen. Denn zu tief sitzt die Angst, von den Artgenossen aussortiert und verlassen zu werden. Die Frage "Haben Sie Stress?" bedeutet indirekt: "Sie sind doch nicht etwa überfordert?" So verstehen wir sie zumindest - und ahnen in der Ferne den drohenden Rand der Gesellschaft.
Die Verbindung zwischen Seele, Geist und Körper wird dabei vorwiegend in eine Richtung gedacht: Wer seelisch leidet, wird früher oder später körperlich erkranken; die Seele wird gerade in der ganzheitlichen Heilkunde häufig als Ursachenträger aller Krankheiten verstanden.
Mit Auffälligkeiten in diesem Bereich verbinden wir aber unbewusst die (Un)Fähigkeit, das eigene Leben zu meistern. Eine Bewertung der Patienten ist damit vorprogrammiert, ob wir nun wollen oder nicht. Sie gehört in unser ursprüngliches Hierarchieverständnis als Gruppenmitglied.
Zwischen moderner Überforderung und den Aufgaben, für die wir von Natur aus noch immer ausgerüstet werden, besteht aber zunehmend ein Missverhältnis, das unsere Bewertung verzerrt. Manchmal brauchen Menschen nur ein paar Zwischenstationen im Lebenslauf oder ein entspanntes Klima am Arbeitsplatz oder einfach ein freundlicheres Umfeld, um aus dem Kreislauf von Krankheit und Überlastung zu entkommen.
Im Laufe der Jahre hat aber die Gemütsverfassung der Patienten für mich noch eine andere Bedeutung gewonnen:
Aus der Beobachtung von zeitlichen Verbindungen, z. B. zwischen Gereiztheit und Infekt, zwischen Mutlosigkeit und Rückenschmerzen, zwischen Beunruhigung und Erkrankung usw., habe ich ein Verständnis von organischen Zusammenhängen entwickelt, das Körper, Geist und Seele nicht mehr trennt.
Natürlich sind diese Beobachtungen nicht repräsentativ, aber es geht wohl jedem ähnlich, der immer wieder dieselben Abläufe sieht, wenn sie erst einmal aufgefallen sind. Man bemerkt sie einmal, zweimal, fünfmal, zehnmal... Und spätestens nach dem fünften Mal fängt man an, an eine Gesetzmäßigkeit zu glauben.
Ich bin mir dessen bewusst, dass ich mich an diese Einschätzung gewöhnt habe, dass ich vielleicht weniger sensibel geworden bin für die Wahrnehmung von Abläufen, die mein Verständnis widerlegen könnten.
Bisher habe ich subjektiv meine Schlussfolgerungen sehr oft bestätigt gesehen, deshalb schreibe ich sie hier auf. Nicht um sie für gesetzmäßig zu erklären, sondern um interessierte Menschen zu motivieren, ihre eigenen Fragen zu stellen und auf Verknüpfungen zu achten. Was war vorher? Was kam danach? Was kann das mit einander zu tun haben? Auch dann, wenn Jahre vergangen sind.
Nach meinem Verständnis muss für eine seelische Verstimmung nur in Ausnahmefällen eine sichtbare Erklärung gesucht werden. Natürlich gibt es Ereignisse, zu denen starke emotionale Reaktionen gehören, oder Lebensumstände, die krank machen. Aber im Alltag kommt es eher selten vor, dass eine negative Grundstimmung wirklich allein durch äußere Anlässe zu begründen ist. Meistens haben die Betroffenen schon ähnliche Situationen erlebt, ohne deshalb in ein vergleichbares Tief geraten zu sein.
Es scheint mir vielmehr so, als ob sich eine organische Belastung, z. B. durch dauerhafte Erschöpfung, Schadstoffbelastung, drohende körperliche Erkrankung oder anderes, in seelischer und geistiger Angegriffenheit genauso abbildet wie in körperlichen Reaktionen.
Seelische und geistige Verfassung sind der Teil unserer Persönlichkeit, für den es keinen genau definierbaren körperlichen Ort gibt, der Teil aber auch, der unsere Individualität ausmacht. Wir können für dieses Gebiet keinen zuverlässigen Laborbefund erstellen, grenzen es deshalb von den messbaren Bereichen der organischen Gesamtheit ab und werfen es in einen Topf mit bewussten Denkvorgängen, denn diese sind ja auch nicht materiell definierbar.
Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass genau dieser nicht greifbare Teil unseres Seins, der auch nicht der Kontrolle unseres Willens untersteht, die wichtigsten und zuverlässigsten Informationen über unser Wohlergehen, über Krankheit und Gesundheit, über Risiko und Bedrohlichkeit, vermittelt.
Die Berührung zwischen unbewussten, unerkannten organischen Vorgängen und bewusst wahrgenommenen körperlichen Abläufen und/oder Störungen findet in dieser Zone statt. Geist und Seele sind sozusagen die ersten Instanzen, die über Veränderungen auf körperlicher Ebene informiert werden. Trübe Gedanken, plötzliche Reizbarkeit, unüberwindliche Lustlosigkeit oder Konzentrationsschwäche erzählen uns davon.
Man kann dabei nicht oft genug betonen, dass alle lebenswichtigen Funktionen unwillkürlich ablaufen und nicht durch bewusstes Denken steuerbar sind. Diese Gesetzmäßigkeit gilt für mich genauso für alle Auffälligkeiten auf seelischer oder geistiger Ebene. Das würde allerdings bedeuten, dass wir weitaus weniger Einfluss auf unser Verhalten haben, als wir gemeinhin glauben.
Die Wahrnehmung der Zeichen, die uns dieser Grenzbereich sendet, verlernen wir frühzeitig, zu viele andere Eindrücke müssen verarbeitet werden und zu viele Anforderungen erfüllt.
Kaum jemand achtet darauf, ob bei betroffenen Menschen, die er aus der Familie oder dem Bekanntenkreis kennt, einer einsetzenden Depression oder geistigen Verwirrung körperliche Krankheiten vorausgingen, ob auf eine überwundene Suchterkrankung eine Phase körperlicher Anfälligkeit folgt oder ob sich nach wiederholter Behandlung schwerer Infektionen – sei es nun schulmedizinisch oder naturheilkundlich – die Gemütsverfassung eines Menschen verändert hat.
Das Ausmaß der Belastung steht dabei in direktem Verhältnis zur psychischen oder geistigen Auffälligkeit. Wer körperlich lebensbedrohlich erkrankt und eine Behandlung erfährt, die diesen akuten Zustand unterdrückt, hat ein höheres Risiko für schwere seelisch/geistige Störungen, als jemand, der nur ab und zu etwas erkältet ist.
Bedrohliche Infektionen, vor allem in der Jugend, können für die spätere gesundheitliche Entwicklung Weichen stellen. Sie erscheinen mir wie ein ein "Befreiungskampf" der Lebenskraft um die Entlastung des gesamten Organsystems.
Zum Glück haben wir heute bei vielen schweren Krisen die Möglichkeit, helfend einzugreifen, allerdings um den Preis, dass konstruktive Prozesse wie Fieber, Schweiß, Absonderung usw. abgebrochen oder ganz unterbunden werden. Zurück bleibt eine diffuse Anfälligkeit, die in jede organische Zone ausstrahlt. Auch die innerste Ebene, die Verbindung zu unbewussten körperlichen Vorgängen hält, ist davon betroffen.
Aus diesem Grund gehören Stimmungseintrübungen, Schlafstörungen, innere Unruhe, Rückzug oder Konzentrationsschwäche zu den wichtigsten Maßstäben für die Beurteilung eines Behandlungsverlaufs - und nicht zuletzt auch für die Lebensqualität.
Diese Verknüpfung hat unter anderem auch Bedeutung für unsere gesellschaftliche Situation. Während Infekte heute meistens sehr schnell erfolgreich zu behandeln sind, haben psychische Erkrankungen in den letzten Jahren erschreckend zugenommen. Immer häufiger sind Menschen deshalb zumindest zeitweise arbeitsunfähig. Und fast täglich lesen wir über Ausbrüche von unkontrollierter Aggression, in Familien, an Schulen, am Arbeitsplatz oder anderen Schauplätzen unseres Soziallebens.
Nach meinem Verständnis handelt es sich dabei um ein akutes "seelisches Organversagen", um Infarkte im eigentlichen Sinne, die sich aus der gesamten Situation ergeben. Der betroffene Bereich, in diesem Fall die materiell nicht definierte Geistes- und Gemütsebene, wird nicht mehr mit der Energie versorgt, die er braucht, um normal zu funktionieren und verweigert seinen Dienst.
Je nach Konstitution wird ein solcher Infarkt äußerlich passiv verlaufen, z. B. Burn-out-Syndrom oder eine andere Form von Depression, die handlungsunfähig macht, oder aktiv bis aggressiv gegen sich oder andere. In diesem Sinne wäre eine groß angelegte Studie, in der die gesundheitliche Vorgeschichte von vielen betroffenen Personen mit einander verglichen würde, sicher wünschenswert, sie ist aber wohl kaum durchführbar.
Die Behandlung von Gemütssymptomen stellt Patienten häufig auf eine Geduldsprobe. Denn ohne die Mitarbeit der körperlichen Ebene ist eine Befreiung des "Gemütsorgans" von seinem Leiden nicht zu erreichen. Das bedeutet, dass im Verlauf der Begleitung die körperlichen "Vorgänger" des aktuellen Übels wieder erscheinen und den Ärger zurückrufen, dessentwegen man sie einst zum Schweigen gebracht hat, manchmal schon bei den Vorfahren.
Dabei fällt auf, dass fast alle Patienten ihre Ängste oder Zwänge als quälender empfinden als eventuelle körperliche Vorerkrankungen.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass dieses Verständnis der Zusammenhänge für die meisten so ungewohnt ist, dass auch Menschen, die entsprechende Abläufe an sich selbst erleben, diese Gedankengänge nur sehr allmählich nachvollziehen können. Das hängt sicher auch mit der Schwierigkeit zusammen, natürliche Abläufe und gesellschaftliche Gegebenheiten mit einander zu vereinbaren. Wer kann es sich schon leisten, wegen wiederkehrender Infekte andauernd am Arbeitsplatz zu fehlen?
Die allgemeine Entwicklung zeigt aber deutlich, dass der bisherige Weg nicht zur gesundheitlichen Entlastung der Bevölkerung führt, eher im Gegenteil. Immer neue Krankheiten und immer jüngere Dauerpatienten drängen uns die Suche nach alternativen Erklärungsmustern auf.
Die abschwächende Tendenz alter Beschwerden während einer homöopathischen Begleitung stimmt mich für den einzelnen Patienten optimistisch (siehe Fallbeispiele); für die gesamtgesellschaftliche Prognose trifft das nicht unbedingt zu.
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