Reaktion oder reagieren sind vertraute Begriffe, die häufig in Verbindung mit körperlichen Abläufen verwendet werden. Re-aktion bezeichnet dabei immer eine individuelle Antwort auf einen auslösenden Faktor, die sich nicht zwingend aus dem Anlass ergibt. Sie fällt bei jedem Menschen anders aus.

 

Eine Narbe z. B. wird nicht schon im Moment der Verletzung "eingepflanzt", sondern sie entsteht in unzähligen kleinen Arbeitsgängen durch die Bildung veränderten Gewebes während der Heilung. Ihre bleibenden Spuren werden also vom Körper selbst geschaffen, von ihm erhält sie ihr charakteristisches Aussehen.

 

Die Lebenskraft gibt dabei den Anstoß zur aktiven Verarbeitung unvorhergesehener Ereignisse. Unterbleiben ihre Impulse, kann es geschehen, dass z. B. eine Wunde sich einfach nicht schließen will, ein Knochenbruch nicht heilt, ungewohnte Nahrungsmittel nicht richtig verdaut werden usw.

 

Im ganzen Organismus finden fortlaufend solche durch Impulse gesteuerten Prozesse statt, zur Verarbeitung, Versorgung, Verteilung usw., die meisten davon außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung. Wie überall kann es dabei Pannen, Schwächen oder Störungen geben, die unsichtbare Kettenreaktionen auslösen.

 

Davon ist jeder organische Bereich betroffen, auch der Schlaf und die geistige und seelische Verfassung. Bei genauer Beobachtung lässt sich gerade auf dieser Ebene manchmal der Weg verfolgen, den die Reaktion auf ein Fremdeinwirken durch den Körper nimmt. Die deutlich spürbare Beschwerde ist dann am Ende das letzte Glied einer langen Reihe von verborgenen Ereignissen.

 

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Nehmen wir an, drei Männer von ungefähr gleicher Statur und Kondition, alle normalerweise tätig in eher geistigen Berufen, verrichten zusammen für einige Stunden eine ungewohnte körperliche Arbeit, z. B. Holz hacken.

 

Die normalen Folgeerscheinungen nach einer solchen Anstrengung wären bei einem gesunden Menschen sicher Erschöpfung und einige Tage Muskelkater. Abhängig von seiner Veranlagung, seiner Krankheitsbelastung und individuellen Situation kann aber jeder einzelne von ihnen auch ganz unterschiedlich darauf reagieren:

 

Der erste hat vielleicht am nächsten Tag einen Hexenschuss. Der zweite leidet als Folge unter einem heftigen Migräneanfall, und der dritte hat einen Leistenbruch.

 

Bei allen handelt es ich um verhältnismäßig schwerwiegende Symptome mit weit reichenden Einschränkungen des Wohlbefindens und der Belastbarkeit, die in der Praxis ohne weiteres denkbar und durchaus nahe liegend sind. Und alle drei werden sagen: "Na klar, das kommt vom Holz Hacken, das bin ich ja nicht gewöhnt." Vom Schwitzen, von den Erschütterungen, vom schweren Heben.

 

Die Schonung, die der Körper verlangt, ist aber nicht allein auf die körperliche Arbeit zurückzuführen, denn dann müssten ja alle drei Männer gleiche oder zumindest ähnliche Beschwerden haben. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch individuelle Symptome – als Reaktion auf Überanstrengung - beschreibt absolut authentisch den Gesundheitszustand des Betroffenen.

 

Was ist damit gemeint?

 

Nehmen wir weiter an, alle drei haben am nächsten Tag einen wichtigen geschäftlichen Termin. Wie können sie sich helfen?

 

Der Hexenschuss-Patient wird sich eine Spritze geben lassen und auf bequeme Stühle hoffen. Er ist vielleicht reizbarer und ungeduldiger als sonst, aber seine geistige Arbeitsfähigkeit ist nicht grundsätzlich von seinem Zustand betroffen. Er braucht körperliche Schonung, wird keine schwere Aktentasche mitnehmen und möglichst bald wieder nach Hause fahren.

 

Wer weiß, was Migräne bedeutet, kann sich vorstellen, dass in diesem Fall die geistige Leistungsfähigkeit sehr wohl beeinträchtigt sein kann. Unser Patient wird also versuchen, sich mit Schmerzmitteln zu helfen. Er wird sich kaum konzentrieren können, und wenn kein Mittel wirkt, muss er unter Umständen absagen.

 

Was nützt seine Anwesenheit, wenn er nicht klar denken kann? Sein Körper fordert absolute Ruhe, im verdunkelten Zimmer, damit er sich von der Strapaze erholen kann. Wenn er sich nicht danach richtet, wird sein Zustand sich verschlechtern, vielleicht sogar unerträglich, je nach Belastungssituation.

 

Auch das Umgekehrte ist denkbar, ein leichter Migräneanfall, der weniger beeinträchtigt als ein schwerer Hexenschuss. In jedem Fall markiert die Lebenskraft mit ihrer Reaktion auf Überforderung ganz genau den Belastungszustand und die Lokalität organischer Schwächen.

 

Eine Anfälligkeit im Lendenwirbelsäulenbereich erzählt uns z. B. nicht selten von Funktionsstörungen der umgebenden Bauch- und Beckenorgane. Auf Nachfrage finden wir diese Vermutung meistens durch Symptome bestätigt, die der Patient gar nicht erwähnt hat, weil er schon lange damit lebt und sich daran gewöhnt hat.

 

Migräne deutet auf eine Verkrampfung der Gefäßmuskeln im Kopf, also in der Nähe der Schaltzentrale unseres Körpers. Damit werden andere, weniger lebenswichtige  Bereiche als mögliche Signalgeber übersprungen. Die Leistungsfähigkeit des Betroffenen ist in jeder Hinsicht eingeschränkt, ohne dass in jedem einzelnen Körperteil ein eigenständiges Symptom für Ruhe sorgen muss.

 

In beiden Fällen bedient sich die Lebenskraft der Schmerzempfindung als Medium, um ihre Probleme deutlich zu machen und entsprechende Schonung zu erzwingen.

 

Unser Leistenbruch-Patient hat es besser als die anderen beiden, auf den ersten Blick jedenfalls. Er kann sich einen Operationstermin etwas später geben lassen. Er ist nicht kurzfristig lahm gelegt, kaum jemand wird ihm etwas anmerken.

 

Dafür wird sich aber sein Problem ohne Hilfe kaum lösen lassen, er muss dauerhaft vorsichtig sein und mit dem latenten Risiko einer lebensbedrohlichen Komplikation leben, in Form eines eingeklemmten Bruchs, der zum chirurgischen Notfall werden kann.

 

Bei näherem Betrachten hat seine Lebenskraft von den dreien die größten Schwierigkeiten, deshalb schiebt sie solchen Experimenten lieber ein für alle Male einen Riegel vor. Offensichtlich ist sie mit ihrer Alltagsarbeit voll ausgelastet und hat keine freien Kapazitäten für unerwartete Belastungsproben, unter denen sie den ungestörten Ablauf der lebensnotwendigen Organfunktionen nicht mehr "garantieren" kann.

 

Es reicht ihr nicht aus, durch eine Empfindung nur vorübergehend für Schonung zu sorgen. Um sich vor Überforderung zu schützen, schafft sie einen Dauerzustand, eine permanente Bedrohung, die sich im Bewusstsein des Betroffenen verankert und ihn zu ständiger Aufmerksamkeit gegenüber seinem Körper zwingt. Die Bruchstelle wird ihn jederzeit daran erinnern, dass er auf sich aufpassen muss. Dabei hat sie gleichzeitig die Funktion einer "Abstellkammer", eines Aufbewahrungsortes für Störfaktoren, von denen sich der Körper nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann. 

 

Diese Auslegung wird verständlich, wenn man die Gelegenheit hat, Lebenswege von Bruchpatienten nach Operationen über lange Zeit weiter zu verfolgen und zu beobachten, wie sich ihr gesamter Organismus in der Folge organisiert, nachdem sein "Schadstofflager" durch den chirurgischen Eingriff verschlossen worden ist. Er wird ein neues anlegen müssen oder intensiv daran arbeiten, den jetzt überall verteilten Inhalt loszuwerden, z. B. durch häufige Infekte. Oder der Allgemeinzustand verschlechtert sich, der Patient ist nicht mehr so tatkräftig wie früher. Das bedeutet: Die Lebenskraft kann nicht ungehindert arbeiten und spart deshalb Energie zunächst an der allgemeinen Leistungsfähigkeit.

 

Diese Zusammenhänge sind für die Betroffenen meistens nicht offenbar. Der Zustand einige Zeit nach einer Operation ist nach unserem Verständnis eine neue Situation, die mit früheren Problemen nichts zu tun hat, erst recht nicht, wenn die Gemütsverfassung betroffen ist, oder z. B. das Kurzzeitgedächtnis. Der Leistenbruch ist "geheilt", jetzt liegt etwas ganz Anderes vor. Ungewöhnliche Konzentrationsschwäche bringen wir meistens mit Überarbeitung in Verbindung, und auch für seelische Tiefs suchen wir einen Anlass, der offensichtlich und damit erklärbar ist.

 

Eine funktionierende Intuition würde hier widersprechen, denn das Unterbewusstsein kennt die innerorganischen Zusammenhänge.

 

Bei meiner Arbeit versuche ich, alle Ebenen ständig im Auge zu behalten und nicht von einander zu trennen, um daran den allgemeinen Zustand, die Verlagerung von Schwachstellen und damit auch ein mögliches Krankheitsrisiko abzulesen und durch tief greifende Unterstützung drohenden Gefahren vorzubeugen.

 

Eine periodische Rückkehr von altbekannten Symptomen sollte mit einer allmählichen Entspannung der Gemütsverfassung und einer Verbesserung des Lebensgefühls einhergehen. Daran kann man erkennen, ob die Lebenskraft wirkungsvoll unterstützt wird und an einem konstruktiven Prozess arbeitet. Im günstigsten Fall werden dann körperliche Beschwerden als Zwang zur Schonung oder als zusätzliche Ausscheidung nach und nach überflüssig.

 

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