Kleine Kinder oder Tiere, die mit uns zusammenleben, haben noch die Gabe der unbefangenen Beobachtung. Manchmal lässt ihr Verhalten ein verblüffendes Verständnis der Zusammenhänge des Lebens erahnen, das wir mit gezielter Aufmerksamkeit nicht ersetzen können.

 

Denn schon bei unseren Beobachtungen kann der Irrtum beginnen. Von Anfang an treffen wir eine Auswahl, die gleichzeitig Bewertung bedeutet. Was nehmen wir überhaupt zur Kenntnis, was merken wir uns, was wird in der Patientenakte dokumentiert? Mehr oder weniger bewusst ordnen wir die Ereignisse in eine Hierarchie der Bedeutung ein, wir teilen ihnen soviel Aufmerksamkeit zu, wie ihnen nach unserer Einschätzung gebührt.

 

Diese Auswahl ist sehr stark geprägt von theoretisch erlerntem Wissen, sie geschieht also nicht unvoreingenommen, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen. Wir haben eine erworbene Vorstellung davon, was wichtig ist und was nicht, was falsch läuft und was richtig. Damit riskieren wir unfreiwillig, Hinweise zu übersehen, von denen wir nicht ahnen, dass sie wesentlich sind.

 

Vieles, was wir für "ganz normal" halten, mag bereits auf organische Veränderungen zurückzuführen sein, auf Störungen im Hormonhaushalt, im Stoffwechsel oder in anderen verborgenen Bereichen. Kleinigkeiten in unserem Alltag, unauffällige Nebensätze im Patientenbericht, verbergen möglicherweise manchmal Informationen von entscheidender Wichtigkeit, aber wir erkennen sie nicht, sie fallen durch die Maschen unseres Bewertungsnetzes:

 

"Kann ich vielleicht eine Viertelstunde später kommen? Wissen Sie, ich hab meine Brieftasche am Bankschalter liegen lassen. So was Dummes, das ist mir noch nie passiert!"

 

"Also dieser Handwerker! Ich hätte ihm an die Gurgel gehen können! So kenne ich mich gar nicht!"

 

Ach ja, vor einem halben Jahr habe ich mir diesen kleinen Hautfleck wegmachen lassen, aber der war ganz harmlos. Damit kann das ja wohl nichts zu tun haben."

 

Was uns entgangen ist, vielleicht weil wir einen unvollständigen Bericht erhalten oder weil wir den Wert einer Information nicht erkennen, bleibt für unseren Erfahrungsschatz ein für alle Male verloren. Unzählige Einzelheiten mögen sich auf den Verlauf einer Patientengeschichte auswirken oder aus ihr hervorgehen, aber oft werden sie uns gar nicht mitgeteilt, weil sie den Betroffenen selbst nicht bewusst sind, sie haben sich daran gewöhnt.

 

Oder wir nehmen sie nicht wahr, können also nichts daraus lernen.

 

Diese Gefahr ist nicht aus der Welt zu schaffen. Umso wichtiger ist es, sich ihrer bewusst zu sein. So können wir vielleicht unsere Sinne öffnen für all das, was wir gewohnheitsmäßig übersehen oder nicht ernst nehmen. Daraus gewinnen wir die Möglichkeit, verborgene Zusammenhänge anhand von wiederkehrenden Abläufen zu erkennen und eine Prognose für die weitere Entwicklung abzuleiten.

 

Die Sensibilisierung der Betroffenen für die Mitteilungen ihrer eigenen Lebenskraft gehört dabei zu den wichtigsten und schwierigsten Aufgaben im Laufe einer homöopathischen Begleitung, denn dafür muss sehr oft ein Berg von erlernten Erklärungen überwunden werden.

 

Wenn Patienten mir ihre Beschwerden beschreiben, füllt die Begründung für ihre Symptome in der Regel mehr als die Hälfte der Schilderung. "Ich habe den Garten umgegraben, stundenlang im Flugzeug gesessen, mit meinem Sohn gestritten, drei Termine in der Stadt gehabt, musste mit der Katze zum Tierarzt, meiner Schwiegermutter die Wäsche waschen, war dann noch in der Oper, also kein Wunder, dass ich jetzt...."

 

Dahinter verschwinden die inneren Ursachen für wiederkehrende Beschwerden, werden vielleicht sogar unbewusst versteckt. Denn Krankheit und Funktionsstörung, die uns zu einem achtsamen Umgang mit uns selbst anhalten sollen, haben wir als Feindbild verinnerlicht.

 

Je besser aber die Kommunikation mit dem eigenen Körper funktioniert, umso genauer können wir erkennen, was wirklich mit uns los ist und umso authentischer wird die beratende Person informiert.

 

Dazu gehört auch ein Blick auf seelische Anfälligkeiten, auf Verunsicherung und Verletzlichkeit, auf Ängste, Zwänge und nervöse Anspannung, denn sie sind nicht zufällig, sondern sie haben einen körperlichen Bezug: Sie bilden organische Schwächen in unserer Seele ab.

 

Der "Volksmund" weiß das schon lange: "...über die Leber gelaufen; ...an die Nieren gegangen; ...die Galle hochgekommen; ...in den falschen Hals geraten..." und so weiter.

 

Körper, Geist und Seele arbeiten Hand in Hand und erzählen von einander, sie kündigen auch drohende Gefahren in der Regel zuverlässig an. 

 

Immer wieder berichten Schwerkranke von dunklen Gedanken, inneren Stimmen, dumpfen Ahnungen, seltsamen Gefühlen, bösen Träumen usw., die dem heutigen Zustand vorausgegangen waren.

 

Solche Hinweise gelangen meist nur für kurze Zeit an die Oberfläche der bewussten Wahrnehmung, in den seltenen Augenblicken, in denen die Aufmerksamkeit nicht von äußeren Einflüssen besetzt ist, morgens in der ersten Wachphase z. B., oder im Zusammenhang mit einer ungewohnten Empfindung, einem Unwohlsein vielleicht oder einer körperlichen Schwäche, die man an sich bisher nicht kannte und die für einen Moment die Konzentration ins Innere hinein lenkt. 

 

Dann geht man aber so schnell wie möglich zum Alltag über, vergisst das kurze Anklopfen der inneren Stimme und wendet sich lieber anderen Dingen zu.

 

Um Krankheit nicht nur zu lindern, sondern möglichst schon vorzubeugen, auch bei der Behandlung scheinbar oberflächlicher Symptome, müssen wir zuerst unseren Körper verstehen lernen. Er ist nicht unser Feind, wann immer er Beschwerden macht, sondern er spricht zu uns, zunächst leise und unauffällig, und dann immer lauter und hartnäckiger, wenn wir nicht zuhören wollen.

 

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