Prognose

Juli 2012

 

 

Mit Prognose ist hier eine Vorausschau gemeint, an der wir uns für den Verlauf der Behandlung ständig orientieren müssen. Sie dient uns als Leitfaden für unser weiteres Vorgehen. Dabei greift jeder Arzt oder Heilpraktiker auf seinen persönlichen Erfahrungsschatz zurück.

 

Wie haben sich ähnliche Fälle unter ähnlichen Umständen entwickelt? Wie kann man eine bestimmte Wende herbeiführen oder verhindern? Birgt die Besserung einzelner Symptome vielleicht spätere Risiken für den Gesamtzustand? Werden Beschwerden wirklich behoben oder nur verlagert?

 

Die Spezialisierung von Ärzten auf immer kleinere, immer genauer bekannte Fachbereiche ist dafür manchmal eher hinderlich als förderlich. Ein Orthopäde oder ein Augenarzt z. B. erfährt meistens nicht, ob sein Patient nach Abschluss seiner Behandlung einen anderen Spezialisten braucht, dessen Hilfe er vorher vielleicht noch nie in Anspruch nehmen musste. Er erstellt seine Prognose nur für den Bereich seiner Zuständigkeit.

 

 

Homöopathen haben den Anspruch, ganzheitlich zu behandeln und gehen dabei von einer besonderen Wirkungstiefe ihrer Arzneien aus.

 

Das bedeutet, dass keine Entwicklung von unserem Einwirken unbeeinflusst bleibt. Ein ungünstiger Verlauf zeigt uns also, dass die Arzneien bestenfalls ihre Wirkung verfehlt haben, dass sie vielleicht schädlichen äußeren Einflüssen nicht gewachsen waren, oder dass eine Situation nicht richtig eingeschätzt oder der Behandlungsschwerpunkt zu oberflächlich gewählt wurde.

 

 

Woran kann man das erkennen?

 

 

Auf den ersten Blick sieht alles ganz einfach aus:

 

Solange der Patient sich mit seiner homöopathischen Medikamentierung wohlfühlt, solange er im Ganzen entspannter wird, schlafen kann, vital und leistungsfähig ist, solange ist auch die Prognose im Allgemeinen gut, und der eingeschlagene Weg führt insgesamt zu einer Verbesserung seines Gesundheitszustandes.

 

Für die meisten Patienten ist das absolut einleuchtend, und viele haben zum ersten Mal das Gefühl, dass ihnen ganzheitlich geholfen wird.

 

Tiefenwirksame homöopathische Arzneien haben aber die (wertvolle!) Eigenschaft, dass sie jeden noch so verborgenen Bereich in einem Organismus erreichen und ruhende oder verdrängte Probleme wieder aufgreifen, an die Oberfläche befördern, und damit einer Lösung zugänglich machen.

 

 

Für die Patienten kann das bedeuten, dass sie sich auf einmal mit längst vergessenen Beschwerden konfrontiert sehen – oder sogar mit Symptomen, die an ihnen selber noch gar nie aufgetreten sind, sondern nur bei ihren Eltern oder früheren Vorfahren.

 

 

Eine Patientin, die z. B. wegen chronisch wiederkehrender Migräneanfälle und Magenproblemen in die Behandlung kommt, sieht sich plötzlich mit einem pustulösen, Rose artigen Ausschlag im Gesicht konfrontiert, den sie noch niemals hatte. Auf meine Frage, ob in ihrer Familie Rose-Erkrankungen (Herpes zoster) aufgetreten seien, fragt sie bei ihrer Mutter nach und erfährt von mehreren Fällen.

 

 

Die deutliche Sichtbarkeit eines solchen Symptoms wird manchmal als noch störender empfunden als z. B. der damit einhergehende Juckreiz. Wer möchte schon dauernd auf so etwas angesprochen werden?

 

"Na, das läuft wohl doch nicht so toll mit Deinen Tröpfchen und Kügelchen? Bist Du sicher, dass das alles seine Richtigkeit hat? Geh doch lieber mal zum Hautarzt!" und so weiter.

 

Patienten geraten damit unter psychischen Druck. Sie erregen die negative Aufmerksamkeit ihres sozialen Umfeldes und leiden darunter fast mehr als unter der Migräne, die sie hinter verschlossenen Türen mit sich allein ausmachen konnten.

 

 

So ungefähr kann sich die erste große Klippe einer homöopathischen Tiefenbehandlung präsentieren. Die Versuchung, das neue Symptom mit Salben oder anderen äußerlichen Maßnahmen wieder zum Verschwinden zu bringen, ist groß. "Also ehrlich, dann habe ich lieber Migräne..."

 

 

Für die Prognose, für die Entwicklung des Gesamtzustandes, ist das weitere Vorgehen entscheidend. Wird dem Organismus die Möglichkeit gegeben, seine konstruktive Arbeit fortzuführen? Hat der Patient/die Patientin die Geduld und vor allem das Vertrauen, den weiteren Verlauf abzuwarten, der bei richtiger Fortsetzung der Behandlung zu einem baldigen Abklingen der neuen Symptome führen wird? Fast immer wird die Empfindung deutlich zeigen, dass der eingeschlagene Weg richtig ist, aber manchmal fehlt der Mut, sich danach zu richten.

 

 

Die Prognose bleibt gut und wird immer besser, wenn der Hautausschlag einen wesentlichen Teil der früheren, tiefer liegenden Beschwerden sozusagen mit hinausnimmt, also den gesamten Organismus von einer alten Last befreit.

 

In diesem Beispiel war Variolinum (Pockensekret) das entscheidende Mittel in dieser Phase, aber selten haben wir es nur mit einem Problem zu tun. Meistens ist der Zusammenhang, aus dem sich Krankheit entwickelt, viel umfangreicher, und nach dem ersten Teilerfolg stehen wir vor der Aufgabe zu erkennen, welche Art von Hindernis dem weiteren Fortschritt nun im Wege steht.

 

 

In all diesen Behandlungsphasen gilt für die Patienten immer das Gleiche: Wie geht es mir im Ganzen? Habe ich an Lebensfreude gewonnen? Habe ich Energie, Zuversicht? Bin ich entspannter als früher? Hat mein Leidensdruck gegenüber dem Anfang der Behandlung abgenommen?

 

Es lässt sich manchmal nicht vermeiden, den Betroffenen längst vergessene Beschwerden vor Augen zu führen, damit ihnen bewusst bleibt, was alles schon besser geworden ist – und vor allem, damit die Prognose gut bleibt!

 

 

Dieses Einzelbeispiel ist symbolisch für die medizinische Forschung insgesamt:

 

Bei der Behandlung vieler, meistens seit längerer Zeit bekannter Krankheiten werden bewundernswerte Erfolge erzielt, aber parallel dazu schreitet die Entstehung noch unbekannter Symptomenkomplexe und Krankheitsbilder in einem Tempo voran, das die medizinische Forschung hoffnungslos abhängt.

 

Der Themenbereich "Allergie" z. B. weitet sich immer schneller aus und betrifft eine wachsende Zahl von Menschen, oft auch in einem Alter, in dem man schon längst nicht mehr damit rechnet. "Wieso reagiere ich jetzt, mit siebzig, auf einmal auf Birkenpollen?"

 

Niemand kann diese Zusammenhänge genau erkennen, auch Homöopathen nicht. Dennoch muss in Frage gestellt werden, ob der Forschungsschwerpunkt darauf liegen sollte, etwa die Inhaltsstoffe von Mückenspeichel genau zu analysieren, um ein Gegenmedikament gegen allergische Reaktionen darauf zu finden. Den Betroffenen mag vorübergehend geholfen werden, aber sie sind damit nicht gefeit vor der Entstehung neuer Allergien oder auch anderer chronischer Krankheiten, deren Ursache wir nicht auf die Spur kommen.

 

Diese Ursache muss in der Disposition der Menschen liegen, die sich fortlaufend verändert und offenbar immer neue Anfälligkeiten entwickelt.

 

Um diesen Problemen auf den Grund zu gehen, wären viel mehr Flächenstudien nötig, Vergleiche zwischen den Voraussetzungen und der Vorgeschichte von unzähligen Patienten, und auch dann noch würde man Gefahr laufen, das Wesentliche nicht zu erkennen.

 

 

Unter anderem deshalb bleibt die intuitive Einschätzung der einzelnen Patienten das wichtigste Kriterium für den Verlauf einer Behandlung. Dabei setzen wir eine Art "organisches Urwissen" voraus, das alle für unseren Verstand unsichtbaren Zusammenhänge beinhaltet. Aus Erfahrung, nicht aufgrund einer erlernten Theorie, greife ich darauf zurück.

 

 

Die Bedeutung der Momente, die außerhalb unserer bewussten Kontrolle liegen, können dabei nicht oft genug betont werden! Empfindungen, die uns überraschen, Schlaf und Träume, dunkle Gedanken in der ersten Aufwachphase usw., sind direkte organische Botschaften, die unseren Zustand treffender beschreiben als jede noch so genaue Untersuchung.

 

"Morgens wache ich immer mit dem Gefühl auf, in einem sinkenden Fahrstuhl zu sitzen..." Solche Meldungen des Unterbewusstseins müssen als erstes verschwinden!

 

 

Meistens gelingt das in einer homöopathischen Begleitung relativ schnell, aber häufig folgen darauf Beschwerden, die zwar nicht bedrohlich, aber doch lästig sind. Es hat den Anschein, als ob die angezeigte gesundheitliche Gefährdung in einen harmloseren Bereich umgelenkt wird, in dem sie sich manchmal hartnäckig festsetzen kann.

 

Diese neuen Symptome können durch Homöopathie gelindert werden, aber die Beseitigung der komplexen Krankheitsursache ist ein sehr langwieriger Prozess, der nicht immer so leicht gelingt, wie im Fall des Rose artigen Hautausschlags, und der darüber hinaus häufig durch äußere Einflüsse gestört wird. Das ursprüngliche Gefühl von Bedrohung gerät darüber oft in Vergessenheit.

 

 

Als begleitende Homöopathen sind wir gefordert, den Betroffenen das Zusammenspiel von innerer Wahrnehmung und äußeren Zwängen immer wieder vor Augen zu führen und ihnen zu helfen, die eigene Intuition höher zu schätzen als alles andere, eine Aufgabe, die auch die behandelnden Homöopathen oft an ihre eigenen Grenzen führt.

 

Denn die Reaktionen aus dem Umfeld der Patienten können ihre Arbeit bedeutend erschweren. Es wird immer wieder vorkommen, dass Patienten unter dem Druck der Beobachtung oder der Bemerkungen Außenstehender – oder auch unter der Last neuer, wenn auch oberflächlicher Beschwerden - den Erfolg der Behandlung und damit ihren gesundheitlichen Fortschritt aufs Spiel setzen.

 

 

Die Prognose wird also sozusagen von den Patienten selbst erstellt. Sie ist umso zuverlässiger, je besser die Sprache des eigenen Körpers verstanden wird.

 

Grundsätzlich wird uns ständig alles mitgeteilt, was uns betrifft, oft allerdings nur in flüchtigen, leisen Botschaften, die wir im Alltag verdrängen. Wenn die Verbindung zur eigenen Empfindung offen ist oder wieder geöffnet werden kann, finden wir hier unseren zuverlässigsten Wegweiser.

 

 

Unter anderem deshalb kann eine homöopathische Begleitung nur in Form einer echten Zusammenarbeit zum Erfolg führen, in der es keine übergeordnete Autorität geben darf. Jederzeit muss uns, die wir die Arzneien auswählen und anwenden, die Unzulänglichkeit unseres eigenen Wissens bewusst sein, und wir müssen offen bleiben für Argumente, die vielleicht bisher nie eine Rolle spielten.

 

 

Das macht unsere Arbeit oft sehr mühselig, aber die Ergebnisse zeigen, dass sich dieser Einsatz lohnt!