Das Potential der Homöopathie wird mit Sicherheit unterschätzt, es ist wahrscheinlich genauso unüberschaubar, wie die verborgenen Zusammenhänge des Lebens. Daraus ergeben sich unzählige Behandlungsmöglichkeiten, auf die wir bisher noch gar nicht gekommen sind. Wann immer ein Problem nicht gelöst werden kann, lohnt sich also die Suche nach neuen Wegen.

 

Das übliche Verfahren der Prüfung neuer Arzneien am Gesunden stößt allerdings inzwischen an die Grenze seiner Nutzbarkeit, denn das Symptomenspektrum großer Mittel ist ebenfalls unüberschaubar und sein spontan sichtbarer Anteil immer auch geprägt von der individuellen Disposition des Prüflings. Ein solcher Versuch kann deshalb immer nur einen Bruchteil der Arzneimittelsymptome erkennbar machen.

 

Die wichtigste Orientierungshilfe im Verlauf einer Behandlung ist also die genaue Beobachtung von Verläufen, der Vergleich zwischen ähnlichen Krankheitsfällen. Was haben diese Menschen gemeinsam? Was ging ihrem heutigen Zustand voraus? Wie ist bisher eingegriffen worden, und wie war die Reaktion darauf? Finden wir in unterschiedlichen Fällen auf gleiche Anlässe hin gleiche Auswirkungen?

 

Diese Fragen stellten sich mir unter anderem im Zusammenhang mit Patienten, deren Zustand sich unter Jahre, zum Teil Jahrzehnte langer homöopathischer Behandlung schleichend verschlechtert hatte. Immer wieder hatten kurzfristig auftretende Beschwerden wie Infekte oder Überlastungsreaktionen gut auf die potenzierten Mittel angesprochen, waren dann aber mit etwas Abstand umso hartnäckiger wieder aufgetreten.

 

Es ist also offensichtlich möglich, auf dieser Ebene unterstützend einzugreifen, dann muss es auch möglich sein, die Gesundheit langfristig dadurch zu stabilisieren.

 

 

Die Wirkung der Nosoden wird, wie jede andere organische Reaktion, vom Körper selbst produziert. Es ist also nur halb richtig, ein bestimmtes Symptom einem oder mehreren Arzneimitteln zuzuordnen, denn ohne die entsprechende körperliche Disposition wird der angesprochene Organismus nicht auf das Mittel reagieren.

 

Er kann seinen energetischen Code nur verstehen, wenn er sich schon einmal mit vergleichbaren Einflüssen auseinander gesetzt hat. Eine Nosode, die keinerlei Bezug zu dem Patienten hat, verpufft ohne Reaktion. Sie wird nicht vom Körper angenommen, sie ist für ihn wie eine in unbekannter Sprache gestellte Frage, die er gar nicht als Frage erkennt, auf die er also nicht antworten kann.

 

 

Anders verhält es sich bei Arzneien, die dem Körper unbekannt sind und deren Wirkung in der Regel umso stärker ist, je giftiger das Ausgangsprodukt, z. B. das Gift der Tollkirsche (Belladonna) oder der Klapperschlange (Lachesis).

 

Diese Mittel haben oft eine erstaunliche spontane Wirkung bei akuten Krankheiten, aber nach meiner Erfahrung bergen sie das Risiko, bei wiederholtem Gebrauch den Patienten durch Unterdrückung der akuten Entzündungssymptome in tiefere gesundheitliche Probleme zu führen, bis hin zu manifesten chronische Krankheiten. Diese Unterdrückung geschieht dann schon am Impuls und nicht erst an der Reaktion.

 

Der Impuls, z. B. eine reinigende Ausscheidung in Gang zu setzen, wird unterbunden, Infekte werden beendet, bevor sie ihren Zweck erfüllt haben und die Lebenskraft damit so irritiert, dass sie diese Arbeit nicht noch einmal aufnimmt.

 

 

Bei der Verordnung körperfremder Substanzen gehen wir davon aus, dass Gifte aus der Natur ihre toxische Wirkung durch hohe Verdünnung ins Positive umkehren, ähnliche Beschwerden beseitigen und dabei in einem lebenden Organismus keinen Schaden anrichten.

 

Wir setzen damit voraus, dass ein entmaterialisierter, ins Energetische übersetzter Einfluss keine zerstörerische Kraft mehr hat, auch nicht langfristig, jedenfalls nicht, wenn die Symptome der Arznei und die Symptome der Krankheit zu einander passen.

 

Obwohl sich diese Annahme auf Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte alte Literatur bezieht, bin ich aus theoretischen Überlegungen und aufgrund von Beobachtungen heute nicht mehr davon überzeugt. Als historisches Beispiel sei hier die Lebens- und Leidensgeschichte der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff erwähnt, Patientin von Clemens von Bönninghausen, der sich als bedeutender Schüler von Samuel Hahnemann einen dauerhaften Namen in der Homöopathie machte. Seine prominente Patientin starb 1848 im Alter von 51 Jahren, vereinsamt und depressiv. "Ihr Tod war die Folge langjähriger mit großer Geduld ertragener chronischer Leiden, ..." (Totenschein, Annette von Droste-Hülshoff, rororo, November 2003, S. 131).

 

Es hat aus heutiger Sicht keinen Sinn, darüber zu spekulieren, ob die homöopathische Behandlung hilfreich war, ob sie vielleicht vorübergehend für Erleichterung gesorgt hat, aber nichts ändern konnte, oder ob sie sogar zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Dennoch geben Beispiele wie dieses Anlass zu kritischem Umgang mit alten Erfahrungsberichten.

 

 

Die Unschädlichkeit potenzierter Arzneien lässt sich weder belegen noch eindeutig verneinen. Es ist nicht auszuschließen, dass pflanzliche, mineralische oder tierische Gifte durch Verabreichung in potenzierter Form zu einem diffusen Schadensfaktor mutieren können, ähnlich  wie z. B. eine Impfung oder auch jede andere Form der äußerlichen Einflussnahme. Dabei ist nicht genau auszumachen, welchen Anteil an dieser Entwicklung die Unterdrückung oder Manipulation von organischen Prozessen hat, und welchen die energetische Information der Substanz an sich.

 

Die Einnahme einer hoch verdünnten Arznei bedeutet in jedem Fall eine Fremdeinwirkung, deren Folgen wir immer nur über einen begrenzten Zeitraum beobachten können. Spätestens bei der Übertragung auf kommende Generationen verlieren wir die Übersicht über die Zusammenhänge.

 

 

Für die Einnahme körperbekannter Substanzen in potenzierter Form konnte ich diese unterdrückende Wirkung bisher nicht beobachten. Wenn sie negative Folgen hat, ist meistens der Zeitpunkt der Verabreichung oder die Potenz und Dosierung falsch gewählt. Sehr große Mittel wie Lyssinum, Carcinosinum oder X-Ray zeigen manchmal eine Erstverschlimmerung, weil sie so viele alte Störfelder in Bewegung bringen, dass die Lebenskraft kurzzeitig überfordert ist.

 

Es kann aber fatal sein, in einem akuten Krisenzustand den Griff zu diesen Mitteln nicht zu wagen, denn je bedrohlicher die Situation ist, umso tiefer muss nach meiner Beobachtung die Wirkung des benötigten Mittels reichen, umso dringender ist sein Einsatz und umso geringer die Gefahr einer Erstverschlimmerung. Der Körper fordert Hilfe an mehreren Orten zeitgleich, und er wird sie jetzt auch brauchen können und sofort umsetzen.

 

 

Ansonsten hat sich das Phänomen der Erstverschlimmerung bei meinen Patienten in den meisten Fällen als Hinweis auf nicht ausreichende Tiefenwirkung des gewählten Mittels herausgestellt, ähnlich einer zu kleinen Bettdecke, die uns immer an einer Stelle frieren lässt. Sehr oft haben Patienten in diesem Fall eine Abneigung gegen die Einnahme, sie sind nicht einverstanden mit der Verschreibung.

 

Dieser Widerspruch ist ausnahmslos immer zu respektieren! Eine Arznei, welche die gesamte gesundheitliche Belastung an ihrer Wurzel vermindert, wird gern genommen, sie wird spontan als wohltuend empfunden, wie eine warme Decke, die am ganzen Körper schützt.

 

 

Anfangs wird die Empfindung dafür noch nicht so ausgeprägt sein, dann lohnt es sich, nach kurzer Zeit gezielt darauf zu achten. Geht es mir jetzt besser als vorhin? Bin ich besser gelaunt? Habe ich Appetit, den ich vorhin noch nicht hatte, oder vielleicht Lust auf einen Spaziergang, zu dem ich mich bisher nicht aufraffen konnte? Kleine Signale, die vordergründig mit der Krankheit nichts zu tun haben, sind wichtige Hinweise für die Verschreibung.

 

Für diese Form der Behandlung kommen Arzneien in Frage, die unsere innersten Störfelder erreichen können, die also in der Lage sind, Fehler in unserer "Datenbank" abzuschwächen oder sogar auszuräumen. In der Praxis haben sich dafür fast ausschließlich Nosoden bewährt, die eine causale Verbindung zur Krankheitsursache haben.

 

Dazu zählen auch Mittel wie Radium-bromatum, Lyssinum, Saccharum oder X-Ray. Diese Mittel stehen in Zusammenhang mit der ursprünglichen Irritation, die unsere innere Organisation beeinträchtigt, Zuckerkonsum z. B. oder wiederholte Belastung durch Röntgenstrahlen (Flugreisen). Aufgrund unserer Lebensgewohnheiten und Alltagssituation werden sie häufig eingesetzt, und sie bewähren sich auch in scheinbar akuten Krisen.

 

 

Das Argument, man könne bei der gleichzeitigen Gabe mehrerer Mittel die Wirkung jedes einzelnen nicht mehr beurteilen, hat an Bedeutung verloren. Dem entgegen steht der Leidensdruck der Patienten. Eine Arznei, die z. B. auf dem Weg aus der gegenwärtigen Krankheit heraus ein altes Symptom hartnäckig wieder hervorholt, muss für den weiteren Verlauf beibehalten werden. Aber oft sind die alten Beschwerden so qualvoll, dass andere Mittel zur Unterstützung unverzichtbar sind.

 

Wir gelangen dann an einen Punkt, an dem sich die gesamte chronische Belastung in einem kleinen Teilbereich festbeißt und dort austobt. Diese Zustände sind meistens nicht bedrohlich im Sinne einer ernsthaften gesundheitlichen Gefahr, aber oft sehr quälend, wie z. B. schmerzhafte Hämorrhoiden, ein offenes Bein, ständiger Reizhusten, schmerzhafte Analfissuren oder andere Zustände, die einen normalen Alltag unmöglich machen. Ihr Charakter gibt uns Hinweise auf den chronischen Hintergrund, und sie fordern die ergänzende Unterstützung aller Arzneien, die, causal oder genetisch bedingt, zur Situation passen.

 

 

Arzneien, die relativ genau treffen, können am Beginn einer chronischen Behandlung geradezu euphorische Zustände verursachen. Patienten empfinden sich über Nacht als geheilt oder zumindest heilbar und werden dafür von ihrer Familie für verrückt erklärt. Schon etwas später lässt diese Euphorie wieder nach, die Beschwerden kehren zurück, allerdings nicht mehr ganz so quälend wie vorher, und der Körper macht sich auf den Weg, die Lebenskraft beginnt ihre "Aufräumarbeit" und braucht dafür Unterstützung.

 

Dieses Anfangs-Hoch erscheint mir manchmal wie eine Projektion des erreichbaren Zustandes. Im weiteren Verlauf stellt sich Besserung allmählich ein, begleitet von den bereits beschriebenen zyklisch wiederkehrenden Krisen, die sich fortlaufend abschwächen. Den Patienten ist dabei die Wirkung der Arzneien nicht immer bewusst, sie kann auch fast unmerklich geschehen.

 

 

Um den Verlauf zu beurteilen, ist es ratsam, von Zeit zu Zeit den heutigen Zustand mit dem bei Behandlungsbeginn zu vergleichen. Wenn die Einnahme vergessen wird, weil die Beschwerden nachlassen, und darauf die Symptome sich wieder verschlimmern, ist der Zusammenhang erkennbar.

 

 

Eine chronische Behandlung ist kein geradliniger Vorgang, sie ähnelt vielmehr dem Reinigen eines komplexen, umfangreich verzweigten Rohrsystems. Man braucht viele verschiedene Bürsten, um nach und nach alle Rohre zu erreichen: lange und kurze, dicke und dünne, harte und weiche usw. Kaum jemals bewirken wir einen bleibenden Fortschritt mit einem einzelnen Mittel, die Belastung der Patienten ist dafür in der Regel zu groß und weit gestreut. 

 

 

Ergänzend gegebene Ausscheidungshilfen wie z. B. Berberis, Solidago, Nux vomica oder Sulfur in verhältnismäßig niedrigen Potenzen haben dabei die Aufgabe, den aus den Rohren gelösten "Schmutz" zu kanalisieren und so weit wie möglich nach außen zu befördern. Sie können verhindern helfen, dass er sich an einer anderen Stelle wieder festsetzt, also neue Beschwerden verursacht.

 

Sehr tief wirkende Nosoden wie Carcinosinum oder X-Ray müssen häufig durch andere Arzneien vorbereitet werden, die den Patienten zunächst kräftigen, damit sein Körper arbeiten kann. Oft ist er erst nach einer Aufbauphase im Stande, eine Reaktion in Gang zu setzen, die eine Tür oder ein Fenster in sein Inneres öffnet.

 

Die hier bezeichneten Kombinationen werden vor allem zur Intensivierung der Wirkung und für die Stabilisierung von chronisch Kranken gebraucht, z. B. wenn sie nach monatelanger Krankheit in den Beruf zurückkehren. Um Stress bedingte Rückfälle zu verhindern und vielleicht sogar die Besserung weiter voranzubringen, ist dann eine praktikable fortlaufende Unterstützung notwendig.

 

Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Alltagsbelastung, die den Patienten oft die Möglichkeit nimmt, sich selber Sorge zu tragen, auf dem Weg zu einer wirklichen Genesung ein großes Hindernis darstellt.

 

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